Von Verena Liedthaus
Der Historiker Andreas Rödder, Professor an der Universität Mainz und Leiter der Denkfabrik Republik 21, analysiert im Gespräch mit der WELT die aktuellen politischen und globalen Herausforderungen Deutschlands. Sein zentraler Kritikpunkt: Das politische System stehe vor einem strukturellen Problem, da fast 60 Prozent der Wähler zwar gegen linke Politik stimmten, jedoch Regierungen mit Beteiligung von SPD oder Grünen erhielten.
Innere Herausforderungen: Migration, Union und AfD
Rödder sieht im Wahlkampf zentrale Themen wie Migration, Sicherheit und Wirtschaft zu wenig behandelt. Er betont jedoch eine „tektonische Verschiebung“: Die Union habe sich von der „grünen Hegemonie“ befreit, die lange den politischen Diskurs dominierte. Initiativen wie die Abstimmung von CDU-Chef Friedrich Merz zur Asylpolitik seien Schritte, um eigene Positionen zu stärken und Handlungsspielräume zurückzugewinnen.
Zur Migrationspolitik kritisiert Rödder das „Staatsversagen“ der letzten Jahre, das er auf moralisierende Debatten und eine europäische Dysfunktionalität zurückführt. Nationale Lösungen seien nötig, wenn die EU-Ebene versagt – ähnlich wie in Dänemark, wo Migration sozialdemokratisch gestaltet werde.
Im Umgang mit der AfD plädiert Rödder dafür, die „Eskalationsspirale“ zu durchbrechen: Statt „Brandmauern“ zu beschwören, solle die Union konservative Positionen selbstbewusst vertreten und die AfD mit der Frage nach Mäßigung (à la Giorgia Meloni) konfrontieren. Koalitionen schließt er aus, warnt aber vor weiterer Radikalisierung.
Koalitionsstrategien und Systemkrise
Rödder sieht die Union im Dilemma: Ein Politikwechsel sei nur möglich, wenn SPD oder Grüne in einer Koalition „sich fügen“. Die FDP bleibe dabei wichtig, um linke Mehrheiten zu verhindern. Er warnt vor einer Fragmentierung des Parteiensystems, die an Weimar erinnere – trotz Unterschieden wie der stabileren öffentlichen Ordnung heute.
Transatlantische Spannungen und globale Ordnung
Die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz wertet Rödder als Spiegel europäischer Doppelmoral. Kritik an autoritären Tendenzen in Deutschland (z. B. Zensurdebatten) sei berechtigt, auch wenn Vances Ton unangemessen war. Europa müsse selbstkritischer agieren, um die liberale Demokratie zu stärken.
Globale Zeitenwende: Rödder betont die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen und warnt vor imperialen Ordnungsvorstellungen. Die neue Bundesregierung stehe vor der Aufgabe, europäische Interessen selbstbewusst – ohne Herablassung – zu vertreten, besonders im Ukraine-Konflikt und gegenüber autoritären Mächten.
Fazit
Rödder fordert einen Politikwechsel, um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates wiederherzustellen. Dazu gehöre, die grüne Dominanz im Diskurs zu brechen, migrationspolitische Sachlichkeit zu wagen und transatlantische Partnerschaften auf Augenhöhe zu gestalten. Sein Appell: Die Union messe sich nicht am „Mainstream“, sondern setze auf klare bürgerliche Positionen – nur so könne sie ihre Wählerschaft zurückgewinnen und die Demokratie stabilisieren.