Friedrich Merz: Der Mann, der Europas liberale Demokratie retten muss

von Hannah Goldwin

Brilon im Sauerland mag auf den ersten Blick nicht nach dem Epizentrum europäischer Politik klingen. Doch aus dieser beschaulichen Stadt stammt der Mann, der vielleicht bald die größte Herausforderung der deutschen Nachkriegsgeschichte meistern muss: Friedrich Merz. Der CDU-Politiker, bislang Oppositionsführer und politischer „Ewiger Zweiter“, steht vor der Aufgabe, nicht nur Deutschland, sondern die liberale Demokratie selbst gegen ihre Feinde zu verteidigen. Scheitert er, könnte das Projekt der offenen Gesellschaft in seiner Heimat unwiderruflich Schaden nehmen.

Die Stunde Null: Ein Misstrauensvotum gegen die Mitte

Rund 20 Prozent der Wähler:innen haben bei der letzten Wahl eine Partei gestärkt, die rechtsextreme Positionen vertritt, Remigrationsfantasien nährt und Björn Höcke eine Bühne bietet. Doch diese Stimmen sind kein rechter Aufschrei – sie sind ein Aufschrei gegen die politische Mitte. Viele dieser Wähler:innen sind keine Ideologen, sondern Verzweifelte: enttäuscht von einer Ampelkoalition, die mit internem Gezanke, Realitätsferne und einer kruden Mischung aus Überregulation und Handlungsunfähigkeit das Vertrauen in die Demokratie weiter untergrub. Olaf Scholz’ größtes Versäumnis? Er demonstrierte, dass Kompromisse nicht zu Lösungen, sondern zu Lähmung führen – ein gefundenes Fressen für alle, die Autoritarismus als vermeintliche Alternative preisen.

Die AfD hat sich unter Scholz verdoppelt. Merz’ Mission ist es nun, sie wieder auf ein erträgliches Maß zu schrumpfen. Doch wie? Jeder Schritt in der Migrationspolitik wird der AfD „zu lasch“ sein, jeder Sozialkürzungswurf der Linken „asozial“. Merz steckt in der Zange – und sein eigenes, überraschend schwaches Wahlergebnis macht die Sache nicht einfacher.

Die autoritäre Illusion: Putin, Trump und die AfD

Doch die Gefahr kommt nicht nur von innen. Im Osten lauert Wladimir Putin, dessen imperialistische Ambitionen an der Ukraine nicht haltmachen werden. Im Westen steht Donald Trump, der mit jedem Wirtschaftsindikator, der in den USA positiv ausfällt, seine Erzählung vom „starken Mann“ untermauert – eine Erzählung, die auch die AfD bedient. Beide, Trump wie die AfD, verkaufen die Illusion, komplexe Probleme ließen sich durch Simplifizierung, Machtgehabe und den Verzicht auf lästige Debatten lösen. Ihre gemeinsame Währung? Die Sehnsucht nach Autorität in einer unübersichtlichen Welt.

Warum ausgerechnet Merz?

Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Friedrich Merz, der als kühler Technokrat gilt, der nie regiert hat und dessen Image lange vom Elitären geprägt war, soll nun die Herzen der Verunsicherten gewinnen. Er muss nicht nur Kanzler, sondern auch eine Art „Präsident im Kanzleramt“ werden – ein Redner, der den Frust aushält, Vertrauen zurückgewinnt und wieder so etwas wie einen gesellschaftlichen Grundkonsens schmiedet.

Dafür braucht er Fähigkeiten, die ihm bislang kaum zugeschrieben wurden: Empathie, Demut, die Gabe, zuzuhören – und gleichzeitig klare Kante zu zeigen. Merz muss der Kanzler aller sein, die die liberale Demokratie verteidigen wollen, auch jener, die nie CDU wählen würden. Sein größtes Kapital? Die Erkenntnis, dass Politik heute nicht nur Ergebnisse, sondern auch Gefühle liefern muss.

Performance über alles: Warum Merz keine Zeit hat

Gerhard Schröder musste Jahre warten, bis die Deutschen seine unpopulären Reformen zu schätzen wussten. Merz hat diese Zeit nicht. Es geht nicht mehr nur um Renten, Energie oder Migration – es geht um das Überleben des demokratischen Systems. Seine Regierung muss daher nicht nur gute Politik machen, sondern vor allem eines vermitteln: „Wir kriegen das irgendwie hin.“

Das klingt nach Symbolpolitik? Vielleicht. Doch in einer Zeit, in autoritäre Verführer mit einfachen Antworten locken, ist genau das überlebenswichtig. Scholz’ Fehler war es, politische Emotionen den Populisten zu überlassen. Merz darf diesen Fehler nicht wiederholen. Er muss sichtbar sein, nahbar, zuweilen sogar unperfekt – und doch der Fels in der Brandung, der Sicherheit ausstrahlt, selbst wenn die Lösungen noch nicht fertig sind.

Die Baustellen: Mehr als nur Politik

Deutschland steht vor enormen Aufgaben: Energiewende, marode Infrastruktur, Verteidigungsfähigkeit, soziale Spaltung. Doch Merz’ wichtigste Aufgabe liegt zwischen den Zeilen: Er muss beweisen, dass Demokratie nicht dysfunktional ist, sondern im Chaos der Meinungen am Ende doch das Beste für alle hervorbringt. Dass Kompromisse keine Schwäche, sondern Stärke sind. Dass eine offene Gesellschaft trotz aller Reibungen lebenswerter ist als jede autoritäre Scheinordnung.

Gelingt ihm das nicht, könnte die nächste Wahl eine historische Zäsur bringen: eine AfD als stärkste Kraft. Dann wäre nicht nur Merz gescheitert – sondern das Projekt der liberalen Demokratie selbst.

Fazit: Ein Kanzler, kein König
Friedrich Merz tritt kein normales Amt an. Er wird weder als strahlender Held gefeiert noch als Retter in der Not in die Geschichte eingehen. Doch vielleicht geht es genau darum: zu zeigen, dass Demokratie keine Helden braucht, sondern Menschen, die verantwortungsvoll handeln – auch wenn es wehtut. Sein Erfolg wird nicht an Umfragen gemessen werden, sondern daran, ob es ihm gelingt, das giftige Misstrauen in die Mitte zu entgiften. Die Uhr tickt.